Nach ständiger Rechtsprechung stellt eine unsachgemäße Verfahrensleitung durch einen Richter für sich genommen keinen Ablehnungsgrund nach § 42 Abs. 2 ZPO dar. Darunter fällt auch die „stark verzögerte Bearbeitung“ einer Sache, weil diese grundsätzlich für beide Parteien nachteilig sei. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hatte über einen Fall zu entscheiden, in dem dies ausnahmsweise doch der Fall war. Über den Einzelfall hinaus illustriert diese Entscheidung, dass es an geeigneten Instrumenten fehlt, um aus dem Ruder gelaufene Verfahren wieder in den Griff zu bekommen.
Sachverhalt
Der klagende Insolvenzverwalter machte gegen eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft wegen behaupteter Pflichtverletzungen bei der Erstellung von Sanierungs- und Bewertungsgutachten Schadenersatz in Höhe von mehr als acht Millionen Euro geltend. Das Verfahren war seit 2006 am Landgericht Düsseldorf anhängig. Streitbefangen war aber „nur“ die Sachbehandlung durch den Vorsitzenden Richter ab September 2017. Damals teilte der Vorsitzenden Richter in einem Beschluss mit, dass er ein eingeholtes Sachverständigengutachten für nicht brauchbar halte.
Mehr als ein Jahr später, im Oktober 2018, folgte eine mündliche Verhandlung, an deren Ende der Vorsitzende Richter einen Verkündungstermin auf den 31. Januar 2019 bestimmte. Nach fünf Verlegungen des Verkündungstermins hob er diesen im Juni 2019 auf, weil eine nochmalige Erörterung der Sache erforderlich sei. Den Erörterungstermin bestimmte er auf November 2019. Nach dreimaliger Verlegung seitens des Gerichts fand der Termin schließlich im Februar 2020 statt. Im Anschluss an diesen Termin sollten weitere Maßnahmen von Amts wegen ergehen. Es waren nun seit der Mitteilung, dass das Sachverständigengutachten nicht brauchbar sei, fast zweieinhalb Jahre ohne inhaltliche Förderung des Verfahrens verstrichen.
Im Juni 2020 kündigte der Richter an, sich „in den Monaten Juli und August schwerpunktmäßig“ um das Verfahren zu kümmern. Anfang November 2020 sagte er eine Bearbeitung bis Mitte November 2020 zu, und Anfang Dezember 2020 eine Bearbeitung bis zum Ende des Jahres. Das geschah nicht.
Am 11. März 2021 erhob der Kläger die Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 GVG, worauf der Vorsitzende Richter am 19. März 2021 einen Beweisbeschluss erließ, in dem er erstmals und ohne Begründung von einer Verjährung der vertraglichen klägerischen Ansprüche ausging.
Nunmehr trat zu Tage, dass die Weiterleitung von Schriftsätzen an die Parteien zum Teil erheblich verspätet, zum Teil gar nicht erfolgte. Einen Schriftsatz der Gegenseite aus dem August 2020 erhielt der Kläger erst auf Nachfrage im Juni 2021, zusammen mit vier weiteren, bislang nicht weitergeleiteten Beklagtenschriftsätzen. Als der Kläger Akteneinsicht beantragte, um sich selbst ein Bild vom tatsächlichen Akteninhalt zu verschaffen, brauchte das Gericht dreieinhalb Monate, um diesen Antrag zu bescheiden.
Als sich herausstellte, dass einer der nicht weitergeleiteten Schriftsätze der Beklagten aus dem August 2020 Ausführungen zur Verjährung enthielt, behauptete der Vorsitzende Richter, dieser Schriftsatz habe ihm bei Abfassung seines Beschlusses vom 19. März 2021 nicht vorgelegen.
Am 11. August 2022 wurde ein mit Parteien und Zeugen abgestimmter Termin zur Beweisaufnahme auf den 26. September 2022 bestimmt, für den der Vorsitzende Richter eine Aktualisierung der Beweisbeschlüsse angekündigte. Am 7. September 2022 erinnerte der Kläger an die angekündigten aktualisierten Beweisbeschlüsse. Am 19. September 2022 verlegte der Vorsitzende Richter den Beweisaufnahmetermin unabgestimmt auf den 12. Dezember 2022 und übersandte dem Kläger weitere sechs ihm bislang nicht zugestellte Schriftsätze. Zugleich erließ er zwei Beweisbeschlüsse. Dem Kläger wurde aber nur einer der beiden Beweisbeschlüsse zugestellt.
Am 6. Oktober 2022 schließlich stellte der Kläger einen Befangenheitsantrag. Auch über diesen Antrag entschied das Landgericht nicht gerade zügig: Die dienstliche Äußerung des abgelehnten Richters lag am 12. November 2022 vor, aber erst am 20. Juli 2023, also mehr als acht Monate später, wies das Landgericht den Ablehnungsantrag zurück. Die sofortige Beschwerde blieb etwas mehr als zwei Monate liegen; das Landgericht half ihr – möglichweise in Kenntnis des (Dienst)alters ihres Vorsitzenden - erst in dem Monat nicht ab, in dem der Vorsitzende Richter in den Ruhestand trat. Bis die Beschwerde das Oberlandesgericht erreichte, hatte sie sich daher erledigt.
Entscheidung
Das Oberlandesgericht konnte aufgrund des Eintritts in den Ruhestand nur noch feststellen, dass die sofortige Beschwerde des Klägers bis zu ihrer Erledigung zulässig und in der Sache begründet war. Entgegen der Auffassung des Landgerichts hatte der Kläger den Vorsitzenden Richter zurecht wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt.
„In einer Gesamtschau auf die Verfahrensgestaltung des abgelehnten Richters hat der Kläger einen Grund glaubhaft gemacht, der geeignet ist, ein berechtigtes Misstrauen gegenüber der Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Das Verhalten des Richters kann auch aus Sicht einer verständigen Partei den Eindruck erwecken, dass dieser das Verfahren nicht fördern wollte.“
Der Senat nennt dann einige „mildernde Umstände“, auf die das Landgericht zu Recht hingewiesen habe, wie die Komplexität des Streitgegenstands, mehrere Änderungen der Klageanträge und eine „sich aus den Akten ergebende starke Belastung des Vorsitzenden Richters“. Dennoch sei hier das zumutbare Maß überschritten:
„In der Summe kommen jedoch die ohne Verfahrensförderung verstrichenen Zeiträume, die zahlreichen Verlegungen, die Nichteinhaltung von Bearbeitungszusagen sowie die etlichen Nachlässigkeiten nur schon bei der Übermittlung von Schriftsätzen sowie Beschlüssen der Kammer selbst einer Rechtsverweigerung gleich. Diese Auffälligkeiten beziehen auch eine vom Vorsitzenden Richter am Landgericht ohne Begründung geäußerte Auffassung zur Verjährung von Ansprüchen ein.“
In einem Zeitraum von fast vier Jahren seien als inhaltliche richterliche Maßnahmen lediglich ein mündlicher Erörterungstermin und an zwei Daten erlassene, aber unausgeführt gebliebene Beweisbeschlüsse zu verzeichnen. Die zahlreichen Verlegungen von Verkündungs- und Verhandlungsterminen hätten beim Kläger den Eindruck erwecken können, der Richter wolle sich inhaltlich nicht mit seiner Klage befassen:
„Allein die fünfmalige Verlegung und die anschließende Aufhebung eines Verkündungstermins erstreckten sich auf einen Zeitraum von mehr als acht Monaten. (…) Schließlich erwecken die jeweils kurz vor dem Termin bestimmten Verlegungen vom 07.07.2022 auf den 26.09.2022 und diejenige vom 26.09.2022 auf einen unabgestimmten Termin am 12.12.2022 nicht den Eindruck, der Richter wolle so das langjährige Verfahren priorisieren.“
Schließlich befasst sich der Senat auch mit dem überraschenden Hinweis auf eine Verjährung:
„Auch wenn die richterliche Bewertung von Rechtsfragen wie der Verjährung grundsätzlich als Ausübung der in richterlicher Unabhängigkeit vorgenommenen Verfahrensleitung keinen Anlass für eine Befangenheit geben, ist Folgendes festzuhalten: Erst im Beschluss vom 19.03.2021 ging der Vorsitzende Richter am Landgericht nach 15 Jahren Verhandlungsdauer erstmals von einer Verjährung der vertraglichen klägerischen Ansprüche aus. Diese – auch nicht ausdrücklich als vorläufige – Rechtsauffassung geäußerte Meinung blieb in dem Beschluss ohne jegliche Begründung. Einen Schriftsatz der Beklagten vom 25.08.2020, der die Verjährungsfrage ausführlicher thematisiert, hat der abgelehnte Richter dem Kläger erst auf dessen Nachfrage nach Übermittlung des Beschlusses vom 19.03.2021 übersandt und insoweit ausgeführt, dass dieser erst jetzt aufgefunden und zuvor „hier falsch zugeordnet“ worden sei. Da selbst diese Sachverhaltsbeschreibung letztlich vage bleibt, ist auch aus Sicht einer verständigen Partei – zumal unter Berücksichtigung der zuvor dargelegten Unregelmäßigkeiten – nachvollziehbar, dass sie den vom Richter dargelegten Ablauf in Frage stellt.“
In der Gesamtschau kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass
„eine verständige Partei in der Lage des Klägers nachvollziehbar den Eindruck gewinnen [konnte], der Vorsitzende Richter am Landgericht nehme seine Anliegen nicht ernst, verweigere die Rechtsfindung über eine erhebliche Zeitspanne hinweg und stehe ihm nicht mit der gebotenen Unvoreingenommenheit gegenüber.“
Nach dem Ausscheiden des abgelehnten Richters wäre die sofortige Beschwerde mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig geworden und auf Kosten des Klägers zu verwerfen gewesen (§ 97 Abs. 1 ZPO). Die einseitig gebliebene Erledigungserklärung des Klägers und die von ihm begehrte Feststellung, dass sein Antrag bis zum Eintritt des abgelehnten Richters in den Ruhestand zulässig und begründet war, waren wegen dieser sonst drohende Kostenfolge zulässig.
Anmerkung
Nun sind Fälle wie dieser zum Glück Ausreißer. Allerdings werden die meisten Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, die komplexere Verfahren führen, von strukturell vergleichbaren Situationen berichten können, wenn auch nicht in dieser extremen Ausprägung.
Das geltende Recht gibt weder den Parteien noch der Justiz wirksame Instrumente an die Hand, solche aus dem Ruder gelaufene Fälle wieder in den Griff zu bekommen.
- Einerseits können Parteien die Verzögerungsrüge nach § 198 GVG erheben. Sie zögern allerdings oft, das zu tun, weil sie Sorge haben, das Gericht damit gegen sich aufzubringen. Ob die Verzögerungsrüge „wirkt“, ist eine offene Frage. Jedenfalls ist der Entschädigungsanspruch keine Sanktion, die auf die Justiz verhaltenssteuernd einwirkt, wie sich das der EGMR wohl vorgestellt hatte. Für die Parteien besteht in aller Regel kein wirtschaftlicher Anreiz, den Entschädigungsanspruch nach § 198 GVG in Höhe von regelmäßig EUR 1.200/Jahr geltend zu machen. Solche Prozesse lassen sich kaum wirtschaftlich führen. Daher mutet es befremdlich an, wenn Justizangehörige aus der geringen Anzahl an Entschädigungsklagen schließen, dass „die Problematik unangemessener Verfahrensdauer in der deutschen Justiz quantitativ eher unbedeutend“ sei (so Reiter, NJW 2015, 2554, 2555). Ebenso könnten sie ein Beleg für ein rationales Desinteresse der Parteien sein. Zudem hat die jüngere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 198 GVG die Messlatte so hoch gelegt, dass die Erfolgsaussichten noch geringer geworden sind.
- Zum andren kann die Partei in extremen Fällen einen Befangenheitsantrag stellen. Hier ließ sich die Kammer mehr als acht Monate Zeit, den Befangenheitsantrag abzulehnen – kennt man nur die überzeugende Entscheidung des Oberlandesgerichts, fragt man sich, mit welcher Begründung. Doch auch im Erfolgsfalle ist unter dem Gesichtspunkt der Beschleunigung nicht viel gewonnen.
- Und Möglichkeiten der Präsidien, steuernd einzugreifen, wenn einzelne Richter oder Kammern objektiv überlastet oder subjektiv überfordert (dazu BGH, Beschluss vom 29. November 2022, 4 StR 149/22) sind, sind kaum vorhanden.
Im Zuge der Diskussion über den Zivilprozess der Zukunft sollten alle drei Elemente auf den Prüfstand.
- So könnten §§ 45, 46 ZPO durch eine kurze Frist für die Entscheidung über den Befangenheitsantrag bzw. die sofortige Beschwerde ergänzt werden. Entscheidet das Gericht nicht innerhalb dieser Frist über das Ablehnungsgesuch oder die sofortige Beschwerde, so gilt der Richter oder die Richterin als befangen. Weitergehend stellt sich die Frage, ob die Neutralität und notwendige Distanz der zur Entscheidung berufenen Richter nicht besser abgesichert wäre, wenn bei Kollegialorganen stets eine andere Kammer oder das übergeordnete Gericht entscheidet, so dass nicht – wie hier – die anderen Angehörigen der Kammer über ihren Vorsitzenden entscheiden müssen.
- Das System der Verspätungsrüge samt korrespondierendem Entschädigungsanspruch sollte insgesamt auf den Prüfstand gestellt werden. Es sollte so überarbeitet werden, dass es dem Gesetzeszweck gerecht wird und dem vom EGMR geforderten Rechtsbehelf gegen überlange Verfahrensdauern im Zivilprozess (siehe EGMR (Große Kammer), Urteil vom 8. Juni 2006 - 75529/01 Sürmeli/Deutschland) auch praktische Durchschlagskraft verleiht.
- Schließlich sollten Möglichkeiten zur Flexibilisierung der Geschäftsverteilung geschaffen werden und Instrumente wie die Intervision eingeführt werden (so auch die „Münchener Thesen zum Zivilprozess der Zukunft“ der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofs aus dem Mai 2024 unter B. 4.).
Eine Recherche bei Beck Online ergab übrigens, dass der betreffende Richter während der Laufzeit dieses Verfahrens Zeit fand, sich mehrfach als Fachautor zu betätigen.
Anmerkung zu Oberlandesgericht Düsseldorf, Beschluss vom 15. Mai 2024 – I – 11 W 34/23